Steuerhaftung: Keine Vollstreckung rückständiger Steueransprüche durch Kontopfändung ohne vorherige Mahnung

AO 1977 §§ 249 ff., § 259, § 281 Abs. 1, § 309 Abs. 1, § 314 Abs. 1

Kontenpfändungen durch zur Vollstreckung rückständiger Steueransprüche sind rechtswidrig, wenn das Finanzamt zuvor keine Mahnung oder Zahlungserinnerung an die Steuerschuldnerin gerichtet hat; § 259 AO eröffnet der Verwaltung durch die Formulierung "soll" zwar ein Ermessen dahingehend, daß in besonderen Fällen, wenn z.B. der Vollstreckungserfolg ansonsten gefährdet wäre, auf eine Mahnung verzichtet werden kann, ob dieses Ermessen rechtmäßig ausgeübt wurde, unterliegt der gerichtlichen Kontrolle.*

FG Brandenburg, Urt. v. 16.5.2001 – 4 K 616/00

Gründe:

I.

Streitig ist die Rechtmäßigkeit von Kontenpfändungen wegen Steuerrückständen aufgrund der Lohnsteueranmeldungen für August und November 1999 und der Umsatzsteuervoranmeldungen September und Oktober 1999.

Die Kl.in verlegte ihren Sitz im August 1998 von S nach E. Ihren Zahlungsverpflichtungen kam sie gegenüber dem zuständig gewordenen Bekl. von Anfang an nicht pünktlich nach: Sie geriet mit Umsatzsteuerbeträgen für 06/99 (fällig 16.8.1999), 07/99 (fällig 14.9.1999), 08/99 (fällig 11.10.1999) mit Hauptschulden i.H.v. insgesamt 27.019,10 DM und für 09/99 (fällig 12.11.1999) i.H.v. 6.274,50 DM in Vollstreckungsrückstand. Der Bekl. erließ aufgrund der Rückstände am 9.12.1999 und 5.1.2000 Pfändungs- und Einziehungsverfügungen gegen die Sparkasse E und die Raiffeisenbank B und pfändete Forderungen der Kl.in aus den Geschäftsverbindungen mit den Banken. Die Pfändungen waren erfolgreich. Die gepfändeten Beträge wurden am 15.12.1999 und 12.1.2000 an die Finanzkasse überwiesen.

Am 11.1.2000 erstellte der Bekl. eine Rückstandsanzeige über weitere Umsatzsteuerbeträge für 09/99 und 10/99 und Lohnsteuerbeträge für 08 und 11/99. Die Lohnsteuerbeträge 08/99 waren am 14.12.1999 fällig, die übrigen Steuerbeträge am 15.12.1999. Die daraus resultierenden Hauptschulden betrugen insgesamt 30.047,69 DM.

Am 18.1.2000 pfändete der Bekl. -- mit den streitbefangenen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen -- bei der Sparkasse E und der Raiffeisenbank B (Drittschuldnerinnen) jeweils einen Gesamtbetrag von 30.765,69 DM bzw. 30.776,69 DM an Forderungen der Kl.in aus den Geschäftsverbindungen mit den Geldinstituten. Der Pfändungsbetrag setzte sich aus den o.g. Hauptschulden, den bis dahin entstandenen Säumniszuschlägen i.H.v. insgesamt 509 DM und den Vollstreckungskosten zusammen. Vor Erlaß der Pfändungs- und Einziehungsverfügungen ist keine Mahnung oder Vollstreckugsankündigung ergangen. Ausweislich der Vollstreckungsakten bestanden am 18.1.2000 -- nach den Zahlungseingängen aufgrund der zuvor erfolgten Kontenpfändungen -- keine weiteren Rückstände.

Die streitbefangenen Pfändungen wurde der Kl.in mitgeteilt. Am 20.1.2000 rief ein Vertreter der Kl.in beim Bekl. an und erkundigte sich nach Lösungsmöglichkeiten für die bestehenden Steuerrückstände. Mit Schriftsatz vom gleichen Tage unterbreitete die Kl.in einen Zahlungsvorschlag und beantragte die Freigabe des Bankkontos. Der Bekl. lehnte den Antrag mit Bescheid v. 25.1.2000 ab.

Am 21.1.2000 erhob die Kl.in Einspruch gegen die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen.

Am 27.1.2000 erfolgte die Überweisung des Pfändungsbetrages an den Bekl. durch eine der Drittschuldnerinnen Der Bekl. hob daraufhin am 28.1.2000 die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen v. 18.1.2000 mit Wirkung vorn 28.1.2000 auf.

Mit Einspruchsentscheidung v. 24.7.2000 wies der Bekl. den Einspruch gegen die streitbefangenen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen als unzulässig zurück, weil die Pfändungsmaßnahmen sich zwischenzeitlich erledigt hätten

Die Kl.in hat bereits am 10.3.2000 Klage erhoben.

Sie ist der Ansicht, sie habe ein besonderes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Pfändungs- und Einziehungsverfügungen v. 18.1.2000. Es bestehe die Gefahr der Wiederholung von rechtswidrigen Kontenpfändungen durch den Bekl. Die Bankpfändungen seien als Vollstreckungsmaßnahmen unverhältnismäßig und daher rechtswidrig gewesen. Vorrangig seien Vollstreckungsmaßnahmen durch den Vollziehungsbeamten gewesen, die Dritten gegenüber nicht bekannt würden.

Die Kl.in beantragt,

festzustellen, daß die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen v. 18.1.2000 rechtswidrig gewesen sind.

Der Bekl. beantragt,

die Klage abzuweisen, hilfsweise die Revision zum BFH zuzulassen.

Er ist der Ansicht, die Bankpfändungen seien rechtmäßig. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei beachtet worden Die Sachpfändung durch den Vollziehungsbeamten wäre für die Kl.in nicht weniger einschneidend gewesen. Das Interesse der Allgemeinheit an einer zügigen Realisierung des Steueranspruchs rechtfertige die effektive Maßnahme der Kontenpfändung.

II.

Die Klage ist zulässig und begründet.

1. Zulässigkeit

Sie ist als sog. Fortsetzungsfeststellungsklage gem. § 100 Abs. 1 S. 4 FGO zulässig. Die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen stellen Verwaltungsakte dar, die sich durch die nachträgliche Aufhebung v. 28.1.2000 erledigt haben. Der Zulässigkeit steht nicht entgegen daß die Erledigung bereits vor Erhebung der Klage eingetreten ist, denn der Wortlaut der Vorschrift schränkt die Zulässigkeit nicht auf eine Erledigung nach Klageerhebung ein (vgl. Gräber, FGO, § 100 Rz. 59). Die Klage ist auch nicht deswegen unzulässig, weil zur Zeit der Klageerhebung noch nicht über den Einspruch gegen die streitbefangenen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen entschieden war. Nach st. Rspr. stellt die Notwendigkeit des abgeschlossenen Vorverfahrens keine Zugangsvoraussetzung einer finanzgerichtlichen Klage, sondern eine Sachurteilsvoraussetzung dar, die auch erfüllt ist, wenn das Vorverfahren erst während des Klageverfahrens abgeschlossen wird (BFH v. 17.5.1985 – III R 213/82, BStBl. II 1985, 521 [522] und v. 7.8.1990 – VII R 120/89, BFH/NV 1991, 569 [571]).

Die Kl.in hat ein besonderes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Pfändungs- und Überweisungsverfügung dargelegt. Für das sog. Fortsetzungsfeststellungsinteresse genügt jedes konkrete, vernünftigerweise anzuerkennende schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art. Es ist insbesondere durch eine Wiederholungsgefahr (z.B. BFH v. 28.8.1990 – VII B 23/90, BFH/NV 1991, 396) oder ein Rehabilitierungsinteresse bei Verwaltungsakten mit diskriminierendem Inhalt (Nachw. s. FG Baden-Württemberg v. 15.4.1994 – 9 K 312/91, EFG 1995, 130 [131]) indiziert. Die Kl.in hat vor allem auf eine bestehende Wiederholungsgefahr hingewiesen. Die Wiederholungsgefahr ist begründet. Es ist nicht auszuschließen, daß der Bekl. erneut eine Vollstreckungsmaßnahme unter den gleichen Umständen durchführt, wie bei den angegriffenen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen. Das Gericht verkennt nicht, daß es die Kl.in grundsätzlich selber in der Hand hat, daß sie ihre Steuerschulden pünktlich entrichtet und so Vollstreckungsmaßnahmen gegen sie nicht erforderlich werden. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, daß im Einzelfall schutzwürdige Belange der Kl.in auch bei bestehenden Steuerrückständen zu berücksichtigen sind.

2. Begründetheit

Die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen des Bekl. v. 18.1.2000 sind rechtswidrig gewesen.

Zwar war der Bekl. grundsätzlich befugt, aufgrund der bestehenden Steuerrückstände Kontenpfändungen bei den Geldinstituten gem. § 281 Abs. 1, § 309 Abs. 1, § 314 Abs. 1 AO durchzuführen. Er war nicht daran gehindert, weil – wie die Kl.in meint – ihm unter Umständen mildere Vollstreckungsmöglichkeiten zur Verfügung standen. Eine Vollstreckung nach §§ 249 ff. AO hat vorrangig den Zweck, den Steueranspruch zugunsten der Allgemeinheit effektiv durchzusetzen, wozu die Bankpfändung ein geeignetes Mittel ist. Insbesondere spricht für die Maßnahme einer Bankpfändung der Umstand, daß es sich bei den Steuerrückständen um laufende Lohn- und Umsatzsteuerbeträge gehandelt hat und die Kl.in zuvor nicht gerade als zuverlässige Steuerzahlerin aufgefallen ist.

Die Kontenpfändungen sind aber rechtswidrig gem. § 259 AO erfolgt, weil der Bekl. zuvor keine Mahnung oder Zahlungserinnerung an die Kl.in gerichtet hat. Die fehlerhafte Unterlassung der Mahnung führt zur Rechtswidrigkeit der Pfändungsverfügung (BFH v 17.5.1988 – VII B 27/88, BFH/NV 89, 114 [115]). Die Vorschrift des § 259 AO eröffnet der Verwaltung, durch die Formulierung "soll", ein Ermessen dahingehend, daß in besonderen Fällen auf eine Mahnung verzichtet werden kann (Tipke/Kruse, AO/FGO [T/K], § 259 AO Rz. 14). Ob dieses Ermessen rechtmäßig ausgeübt wurde, unterliegt der gerichtlichen Kontrolle (§ 102 FGO).

Der Umstand, daß der Gesetzgeber die Erforderlichkeit der Mahnung ausdrücklich im Gesetz normiert hat, spricht für den Regelfall der Erforderlichkeit der Mahnung, die nur unter besonderen Umständen entbehrlich ist. Nach pflichtgemäßer Ermessensausübung kann nur dann auf eine Mahnung verzichtet werden, wenn der Vollstreckungserfolg ansonsten gefährdet wäre (Tipke/Kruse, AO/FGO [T/K], § 259 AO Rz. 14). Aus den Vollstreckungsakten und den angegriffenen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen ist nicht erkennbar, daß der Bekl. überhaupt ein Ermessen zur Prüfung der Ausnahmevoraussetzungen ausgeübt hat, so daß ein Ermessensnichtgebrauch nahe liegt. Auf jeden Fall liegt ein Ermessensfehlgebrauch vor, da die Voraussetzungen für einen Verzicht auf eine Mahnung nicht vorgelegen haben.

Es sind keine Anzeichen dafür erkennbar, daß der Vollstreckungserfolg durch eine Mahnung gefährdet worden wäre. Auch der Umstand, daß sich die Kl.in zuvor mit Umsatzsteuerbeträgen in Vollstreckung befunden hat und der Anspruch des Finanzamts durch eine Kontenpfändung realisiert werden konnte, rechtfertigt noch nicht die sofortige Pfändung ohne vorausgehende Mahnung. Insbesondere hätte der Bekl. berücksichtigen müssen, daß bei Erlaß der Pfändungsverfügungen am 18.1.2000 die früheren Vollstreckungsrückstände beglichen waren. Die Tatsache, daß Kontenpfändungen einschneidende Wirkungen nach sich ziehen können, erfordert eine restriktive Handhabung von Ausnahmen bei der Anwendung der Vorschriften, die die Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung regeln, zu denen die Vorschrift des § 259 AO gehört. Auch das automatisierte Massenverfahren entbindet die Behörde nicht von ihrer Pflicht zur Prüfung, ob die Vollstreckungsvoraussetzungen im Einzelfall vorliegen.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch sonst keine der in § 115 Abs. 2 FGO genannten Gründe vorliegen.

Einsender: Jens Klein, Steuerberater u. Dipl.-Sozialökonom, Buxtehude

 

* Leitsatz der Redaktion.

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