BGH v. 27.7.2023 - IX ZR 138/21

Prüfung der Kontounterlagen durch den Insolvenzverwalter: Zur Frage grob fahrlässiger Unkenntnis

Der Insolvenzverwalter hat die ihm bekannten Konten der Hausbank des Schuldners innerhalb eines angemessenen Zeitraums darauf zu überprüfen, ob ihm die Kontounterlagen vollständig vorliegen und die Kontounterlagen Anhaltspunkte für anfechtungsrelevante Vorgänge enthalten. Hinsichtlich eines in den Drei-Monats-Zeitraums der Deckungsanfechtung fallenden Anfechtungstatbestandes liegt regelmäßig grob fahrlässige Unkenntnis vor, wenn der Insolvenzverwalter die Überprüfung der ihm bekannten von der Hausbank des Schuldners geführten Konten für mehr als drei Jahre ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens unterlässt und sich ihm aufgrund der aus den Kontounterlagen erkennbaren Zahlungsvorgänge und der ihm bekannten sonstigen Tatsachen weitere Ermittlungen hätten aufdrängen müssen.

Der Sachverhalt:
Der Kläger ist Verwalter in dem über das Vermögen der H. GmbH (Schuldnerin) am 20.3.2009 eröffneten Insolvenzverfahren. Er macht gegen die Beklagte einen Zahlungsanspruch unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Insolvenzanfechtung geltend. Die Beklagte war die Hausbank der Schuldnerin. Sie gewährte dieser mehrere Darlehen, darunter zur Vorfinanzierung einer Investitionszulage einen bis zum 30.12.2008 befristeten Kontokorrentkredit bis zu einem Höchstbetrag von 900.000 € zur Kontonummer 529. Als besondere Vereinbarung vermerkten die Vertragsparteien im Kontokorrentkreditvertrag vom 27.4.2007: "Die Kreditlinie dient der Vorfinanzierung der Investitionszulage für die Errichtung einer Anlage. Eingehende Beträge reduzieren die Kreditlinie in gleicher Höhe". Als Sicherheit vereinbarten die Vertragsparteien u.a. die Abtretung der - von der Schuldnerin beim Finanzamt noch zu beantragenden - Investitionszulage an die Beklagte.

Diesen Antrag stellte die Schuldnerin Anfang Februar 2008 und nochmals Ende März 2008. Hierbei zeigten die Beklagte und die Schuldnerin dem Finanzamt mit schriftlicher Erklärung vom 21.2.2008 die Abtretung der Investitionszulage an. Zugleich wiesen sie das Finanzamt an, die Investitionszulage auf das vorgenannte Konto der Schuldnerin bei der Beklagten zu überweisen. Mit Bescheid vom 11.11.2008 setzte das Finanzamt für das Kalenderjahr 2007 eine Investitionszulage i.H.v. rd. 514.000 € fest und überwies den Betrag auf dieses Konto. Die Beklagte verrechnete den am 13.11.2008 erfolgten Zahlungseingang mit dem offenen Saldo auf diesem Konto zum 31.12.2008.

Am 26.1.2009 beantragte die Schuldnerin die Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Am 30.1.2009 kündigte die Beklagte sämtliche Geschäftsverbindungen mit der Schuldnerin und teilte dieser mit, welche bisher geführten Konten sie in Abrechnungskonten mit anderen Kontonummern überführt habe. Am 20.3.2009 wurde das Insolvenzverfahren eröffnet und der Kläger zum Insolvenzverwalter bestellt. Am 2.4.2009 meldete die Beklagte u.a. eine Hauptforderung von rd. 53.000 € zur Tabelle an, die sie mit "Konto 901 (vormals 529)" bezeichnete. Hierzu reichte sie den Kontokorrentkreditvertrag sowie eine Forderungsberechnung ein, die mit einer "Verrechnung nach VKG/497 BGB" am 30.1.2009 begann. In der Anmeldung gab sie zudem an, die Schuldnerin habe ihr Sicherheiten bestellt, u.a. die "Abtretung Einzelforderungen, Finanzamt /Investitionszulage".

Die Auszahlung der Investitionszulage und deren Verrechnung durch die Beklagte waren dem Kläger bis November 2014 unbekannt. Kontoauszüge zu dem Konto mit der vormaligen Nummer 529 lagen ihm bis dahin nicht vor. Er forderte diese erst im November 2014 bei der Beklagten an. Der Kläger hat die Verrechnung der Investitionszulage auf dem Kontokorrentkonto der Schuldnerin angefochten und nimmt die Beklagte mit der am 27.12.2017 beim LG eingegangenen, der Beklagten am 5.2.2018 zugestellten Klage auf Zahlung von 514.000 € in Anspruch. Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung erhoben.

Das LG gab der Klage antragsgemäß statt und verurteilte die Beklagte zur Zahlung; das OLG wies die Klage ab. Auf die Revision des Klägers hob der BGH das Urteil des OLG auf und wies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Nach den bisherigen Feststellungen des OLG ist die Beklagte nicht gem. § 214 Abs. 1 BGB berechtigt, die Leistung zu verweigern. Mit der vom OLG gegebenen Begründung kann nicht angenommen werden, dass die Forderung verjährt ist.

Die Frist beginnt gem. § 199 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1 BGB erst mit dem Ende des Jahres, in welchem der Insolvenzverwalter Kenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners erlangt. Dabei kommt es auf die Kenntnis jener Tatsachen an, aus denen der Anspruch herzuleiten ist. Positive Kenntnis hatte der Kläger im Streitfall nicht vor November 2014, weil ihm namentlich der Eingang der Investitionszulage auf dem Kontokorrentkonto und die Verrechnung mit dem Saldo bis dahin unbekannt waren. Der (positiven) Kenntnis steht nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 Fall 2 BGB die grob fahrlässige Unkenntnis der tatsächlichen Anfechtungsvoraussetzungen gleich. Die Würdigung des OLG, der Lauf der Verjährungsfrist sei infolge grob fahrlässiger Unkenntnis des Klägers so frühzeitig in Gang gesetzt worden, dass Verjährung bereits vor dem Jahr 2017 eingetreten sei, ist nicht frei von Rechtsfehlern.

Es ist unverzichtbar, dass der Insolvenzverwalter in angemessener Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens überprüft, ob zu den ihm bekannten Konten des Schuldners bei dessen Hausbank auch die Kontoauszüge für den kritischen Zeitraum im Sinne der § 130 Abs. 1, § 131 Abs. 1 InsO vorliegen. Insoweit darf sich der Insolvenzverwalter auch nicht ungeprüft auf die Vollständigkeit der ihm vom Schuldner übergebenen Unterlagen verlassen. Der Insolvenzverwalter muss auch ohne konkrete Verdachtsmomente die Kontoauszüge auf Vollständigkeit prüfen, nicht oder nicht vollständig vorliegende Kontounterlagen bei dem Kreditinstitut anfordern und diese auswerten. Die Überprüfung der Kontounterlagen auf Vollständigkeit, die Anforderung nicht (vollständig) vorliegender Kontoauszüge sowie die Überprüfung der Kontoauszüge auf verdächtige Zahlungen - immer bezogen auf den Drei-Monats-Zeitraum der §§ 130, 131 InsO - haben innerhalb eines den Umständen nach angemessenen Zeitraums zu erfolgen.

Grob fahrlässige Unkenntnis von den tatsächlichen Voraussetzungen eines Insolvenzanfechtungsanspruchs setzt voraus, dass der Insolvenzverwalter seine Ermittlungspflichten in besonders schwerer, auch subjektiv vorwerfbarer Weise vernachlässigt hat. Hinsichtlich eines in den Drei-Monats-Zeitraums der Deckungsanfechtung fallenden Anfechtungstatbestandes liegt regelmäßig grob fahrlässige Unkenntnis vor, wenn der Insolvenzverwalter die Überprüfung der ihm bekannten von der Hausbank des Schuldners geführten Konten für mehr als drei Jahre ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens unterlässt und sich ihm aufgrund der aus den Kontounterlagen erkennbaren Zahlungsvorgänge und der ihm bekannten sonstigen Tatsachen weitere Ermittlungen hätten aufdrängen müssen. Das ist dann der Fall, wenn und sobald jeder sorgfältig arbeitende Verwalter den aus den Kontoauszügen ersichtlichen Vorgang aufgrund konkreter Verdachtsmomente zum Anlass genommen hätte, dessen Anfechtbarkeit zu überprüfen.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | InsO
§ 130 Kongruente Deckung
Thole in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023

Kommentierung | InsO
§ 131 Inkongruente Deckung
Thole in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023

Kommentierung | InsO
§ 146 Verjährung des Anfechtungsanspruchs
Thole in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 09.10.2023 10:33
Quelle: BGH online

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