24 / 2016

Prof. Dr. Jessica Schmidt, Bayreuth

Ein Europäisches Wirtschaftsgesetzbuch?!

Im Oktober 2016 wurde eine neue Initiative für die Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsgesetzbuchs gestartet. Grundlage ist eine von 14 namhaften französischen Wissenschaftlern und Praktikern unter der Schirmherrschaft der Association Henri Capitant und mit Unterstützung der Fondation pour le Droit Continental erstellte Studie mit dem Titel "Der Europäische Aufbau im Wirtschaftsrecht: Besitzstand und Perspektiven", die Anfang Oktober 2016 der Öffentlichkeit präsentiert wurde (www.codeeuropeendesaffaires.eu/2016/09/29/a-european-business-law-code-way-forward-for-the-euro). Ziel der Studie ist zum einen ein Überblick über den unionsrechtlichen Besitzstand (Acquis) im Wirtschaftsrecht, zum anderen die Vorstellung von Überlegungsansätzen für seine Weiterentwicklung und letztlich die Schaffung eines „Europäischen Wirtschaftsgesetzbuchs”. Der Begriff des „Wirtschaftsrechts” wird dabei bewusst breit verstanden: Er erfasst über das Gesellschaftsrecht hinaus auch alle anderen wesentlichen Rechtsbereiche, die für Unternehmen von Bedeutung sind: Das Bankrecht, das Recht der Finanzmärkte, das Recht des elektronischen Geschäftsverkehrs, das Wettbewerbsrecht, das Kreditsicherungsrecht, das Insolvenzrecht, das Versicherungsrecht, das Recht des geistigen Eigentums, das Sozialrecht und das Steuerrecht.


I. Defizite des unionsrechtlichen Besitzstands im Wirtschaftsrecht

Wie die Studie anschaulich darlegt, weist der unionsrechtliche Besitzstand im Wirtschaftsrecht – ungeachtet aller Fortschritte – nach wie vor erhebliche Defizite auf. In formaler Hinsicht liegt dies zum einen an der Zersplitterung der Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, zum anderen daran, dass die maßgeblichen Rechtsakte (außer für Experten) nur schwer zugänglich und verständlich sind.

Inhaltlich wird zu Recht die Heterogenität und Unvollständigkeit des unionsrechtlichen Besitzstandes beklagt. Es gibt zwar vereinzelt durchaus Bereiche, in denen wirklich europäische Instrumente existieren (z.B. die SE, der Europäische Vollstreckungstitel oder die Unionsmarke) – diese sind aber eher die Ausnahme. Kritisiert wird zudem der Fokus des Acquis auf Finanzen, Banken, Versicherer und Verbraucher – dies trägt dem Geschäftsalltag vieler europäischer Unternehmen nicht hinreichend Rechnung.


II. Materielle Reformvorschläge und Überlegungen

Angesichts dieser Defizite sehen die Autoren der Studie zu Recht ein Bedürfnis für eine spürbare Wiederbelebung der Harmonisierung im Bereich des Europäischen Wirtschaftsrechts. Vorgeschlagen wird insbesondere auch die Ausdehnung der Rechtssetzung auf bislang noch oder kaum harmonisierte Bereiche, die aber für den Geschäftsalltag europäischer Unternehmen wesentliche Bedeutung haben. Im Detail wird ein ganzes Spektrum verschiedenster Reformansätze in den zwölf erfassten Bereichen des Wirtschaftsrechts präsentiert, von denen hier nur einige besonders interessante herausgegriffen werden können.

Im Bereich des Gesellschaftsrechts wird insbesondere gefordert, das Projekt der Europäischen Privatgesellschaft (Societas Privata Europaea – SPE) wiederzubeleben; der 2014 nach Rücknahme des SPE-Vorschlags präsentierte Vorschlag für eine Societas Unius Personae (SUP) wird (zu Recht) nur als "zweite Wahl" angesehen. Dem ist nachdrücklich zuzustimmen. Denn wie auch in der Studie betont wird, wäre nur eine echte supranationale und umfassend einsetzbare SPE ein wirklicher Gewinn für europäische Unternehmen (vgl. auch J. Schmidt, GmbHR 2014, R129 [R130]; Bayer/J. Schmidt, BB 2016, 1923 [1924], m.w.N.). Vorgeschlagen wird darüber hinaus aber auch eine intensivere Befassung mit dem Konzernrecht, evtl. sogar die Schaffung eines "wahren [europäischen] Konzernrechts". Diese Forderung kann ebenfalls nur unterstützt werden. Die Kommission hatte zwar im Aktionsplan 2012 (COM[2012] 740, 4.6) Maßnahmen zur Verbesserung der Gruppentransparenz und zur Anerkennung des "Gruppeninteresses" angekündigt; bislang gibt es aber noch keine konkreten Legislativvorschläge, sondern nur Vorschläge von Expertengruppen (dazu Bayer/J. Schmidt, BB 2016, 1923 [1927 f.]).

Im Hinblick auf das Insolvenzrecht wird für eine materielle Harmonisierung des Insolvenzverfahrensrechts plädiert. Dem kann man sich ebenfalls nur anschließen. Die Kommission hat zwar für Ende 2016 einen Legislativvorschlag für Unternehmensinsolvenzen mit Regelungen für frühe Umstrukturierungen und für eine  "zweite Chance" angekündigt; dem Vernehmen nach werden darin aber keine weiteren Regelungen für eine umfassende materielle Harmonisierung des Insolvenzrechts enthalten sein.

Auf dem Gebiet des Finanzmarktrechts beklagt die Studie zu Recht den aufgrund des „Regelungs-Tsunamis” der letzten Jahre gewachsenen Regelungsdschungel (vgl. dazu auch J. Schmidt in J. Schmidt/Esplugues/Arenas García (eds.), EU law after the financial crisis, 2015, S. 34 ff.) und regt – im Einklang mit entsprechenden Überlegungen im Aktionsplan für eine Kapitalmarktunion (vgl. COM[2015] 468, S. 18 f.) ? eine Konsolidierung des Rechtsrahmens an; auch dies ist in der Tat ein wichtiges Desiderat. Zudem wird vorgeschlagen, das Recht der Finanzmärkte für KMU und Kleinanleger zu öffnen, u.a. durch die Schaffung eines Rechtsrahmens für Crowdfunding (die Kommission hat allerdings im Mai im Kontext der Vorlage eines Berichts zum Crowdfunding konstatiert, dass ihres Erachtens derzeit kein Anlass für den Erlass eines EU-Rechtsrahmens bestehe, man die Entwicklung aber aufmerksam verfolgen werde, vgl. SWD[2016] 154, S. 31).

In Bezug auf das Bank- und Kreditsicherungsrecht wird u.a. moniert, dass sich das europäische Kreditrecht derzeit auf den Verbraucherkredit konzentriert; deshalb wird die Erarbeitung eines europäischen Kreditrechts für Unternehmen (v.a. Informationspflichten, Kreditabbruchbedingungen) angeregt. Zur Diskussion gestellt wird ferner eine Harmonisierung des Rechts der Mobiliarsicherheiten, die Wiederbelebung des Projekts einer Eurohypothek (vgl. KOM[2005] 327, S. 15) und die Einführung eines Europäischen Arrests in Anlehnung an den europäischen Vollstreckungstitel.

Im Hinblick auf das Versicherungsrecht wird die Schaffung eines europäischen Versicherungsvertrags zur Diskussion gestellt.

Weiteren Harmonisierungsbedarf verortet die Studie auch im Vollstreckungsrecht; angedacht wird u.a. die Erweiterung der Kontenpfändungs-VO (VO [EU] 655/2014) auf Forderungen und sonstiges Vermögen des Schuldners.

Eine Schlüsselrolle misst die Studie dem Recht des elektronischen Geschäftsverkehrs bei. Insofern wird weitgehend auf die ehrgeizigen Pläne der Kommission in der Mitteilung „Strategie für einen digitalen Binnenmarkt für Europa” (KOM[2015] 192) verwiesen. Es wird aber auch kritisiert, dass die einzelnen darin vorgesehen Maßnahmen insgesamt nicht hinreichend abgestimmt und partiell auch hypertroph erscheinen.

Im Bereich des Geistigen Eigentums wird u.a. die Schaffung eines europäischen Urheberrechts und eines Vereinheitlichung des Arbeitnehmererfindungsrechts angedacht.

Auf dem Feld des Wettbewerbsrechts wird die vollständige Abschaffung der innerstaatlichen Wettbewerbsrechte vorgeschlagen; ferner wird erwogen, den Missbrauch wirtschaftlicher Abhängigkeit als wettbewerbswidrige Praxis zu deklarieren.

Einbezogen sind in die Studie schließlich auch das Sozial- und Steuerrecht, denn für den Geschäftsalltag europäischer Unternehmen sind diese Fragen evident von ganz maßgeblicher Bedeutung. Ungeachtet des Charakters dieser beiden Felder als traditionell besonders "heiße Eisen" werden auch hier ambitionierte Vorschläge gemacht, so z.B. die Harmonisierung des Kündigungsrechts oder des Körperschaftsteuersatzes (nicht nur der Bemessungsgrundlage wie im Vorschlag vom Oktober 2016 [vgl. COM(2016) 685]).


III. Ziel: Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsgesetzbuchs

Endziel des gesamten Projekts ist die Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsgesetzbuchs, das alle genannten Bereiche umfasst. Dies ist aber ganz bewusst als ein langfristiges Projekt angelegt. Angedacht ist in einem ersten Schritt zunächst die Erfassung und Kodifizierung des Unionsrechts in den genannten Bereichen in einem einheitlichen Europäischen Wirtschaftsgesetzbuch”. Langfristig gehen die Pläne aber durchaus erheblich weiter: Am Ende soll nicht (wie bislang) eine bloße Harmonisierung der nationalen Regeln stehen, sondern es soll ein echtes europäisches Wirtschaftsgesetzbuch mit EU-weit geltenden einheitlichen Regeln geschaffen werden.

Für europäische Unternehmen – insbesondere KMU – hätte ein solches europaweit einheitliches Regelwerk entscheidende Vorteile: Sie müssten sich nicht mehr mit – trotz aller Harmonisierung – 28 unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen auseinandersetzen, sondern könnten (weitgehend) nach einem einheitlichen europäischen Recht "leben".

Zugegebenermaßen handelt es sich um ein sehr ambitioniertes Projekt – aber letztendlich war dies die "Europäische Idee"schon immer. Als am 25.3.1957 die Römischen Verträge unterzeichnet wurden, war die heutige Europäische Union schließlich auch nur ein "ferner Traum". Die seismischen Erschütterungen in den letzten Jahren (Finanzkrise, Migrationswelle, Brexit) sollten kein Grund sein, die EU zu begraben, sondern vielmehr als Weckruf und Startschuss für einen Neustart verstanden werden. Vor diesem Hintergrund versteht sich auch das Projekt eines Europäischen Wirtschaftsgesetzbuchs ganz bewusst als eine Neuinitialisierung der "Europäischen Idee" im Wirtschaftsrecht. Den Bürgern und Unternehmen Europas muss wieder deutlich vor Augen geführt werden, welch immense Vorteile die Europäische Union für jeden Einzelnen bedeutet und welch enormes Zukunftspotential – gerade für die Europäischen Unternehmen – noch in ihr steckt. Die erste große internationale Konferenz zu diesem Projekt soll deshalb ganz bewusst im Vorfeld der Feierlichkeiten anlässlich des 60. Jubiläums der Römischen Verträge am 23./24.3.2017 in Rom stattfinden. Im Zusammenhang damit soll eine Gruppe aus Experten aus ganz Europa eingesetzt werden, die mit der konkreten Ausarbeitung eines Europäischen Wirtschaftsgesetzbuchs beginnen soll.

Verlag Dr. Otto-Schmidt vom 23.02.2017 08:54