BVerfG 27.11.2022, 2 BvR 1424/15

Übergangsregelung vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren im JStG 2010 teilweise verfassungswidrig

Die Übergangsregelung des § 36 Abs. 4 KStG in der Fassung von § 34 Abs. 13f KStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2010 (§ 36 Abs. 4 KStG) ist mit Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG teilweise unvereinbar. Sie führt bei einer bestimmten Eigenkapitalstruktur zu einem Verlust von Körperschaftsteuerminderungspotenzial. Dieses unterfällt, soweit es im Zeitpunkt des Systemwechsels vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren realisierbar war, dem Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 GG. Der Eingriff in dieses Schutzgut ist nicht gerechtfertigt.

Der Sachverhalt:
Während der Geltung des Anrechnungsverfahrens wurde das verwendbare Eigenkapital (vEK) der Gesellschaft entsprechend seiner Vorbelastung mit Körperschaftsteuer in verschiedene „Eigenkapitaltöpfe“ (EK) gegliedert. Eine Belastung des einbehaltenen Gewinns mit 45 % wurde im sog. „EK 45“ vermerkt, eine Belastung mit 40 % im „EK 40“. Diese belasteten Eigenkapitalteile enthielten ein Körperschaftsteuerminderungspotenzial in Höhe der Differenz zwischen Tarif und Ausschüttungsbelastung. Steuerfreie Vermögensmehrungen wurden im „EK 0“ erfasst. Dieses unterteilte sich in die nach Doppelbesteuerungsabkommen steuerfreien ausländischen Gewinne und Verluste (EK 01), Altrücklagen aus den Jahren vor 1977 (EK 03), offene und verdeckte Einlagen der Gesellschafter (EK 04) sowie sonstige der Körperschaftsteuer nicht unterliegende Vermögensmehrungen (EK 02). Das EK 02 und das EK 03 wurden bei einer Ausschüttung mit dem Ausschüttungssteuersatz von 30 % nachbelastet, sie enthielten also ein Steuererhöhungspotenzial.

Den Übergang vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren gestaltete der Gesetzgeber durch die mit dem Steuersenkungsgesetz vom 23.10.2000 neu in das Körperschaftsteuergesetz eingefügten §§ 36 bis 40 KStG. Gem. § 36 KStG wurden die unterschiedlich mit Körperschaftsteuer belasteten Teilbeträge des Eigenkapitals in mehreren Umrechnungsschritten zusammengefasst und umgegliedert und die so ermittelten Endbestände gesondert festgestellt. Diese Feststellung bildete die Grundlage für die Ermittlung des Körperschaftsteuerguthabens nach § 37 Abs. 1 KStG einerseits und der Nachbelastung mit Körperschaftsteuer gem. § 38 KStG andererseits.

Mit Beschluss vom 17.11.2009 (BVerfGE 125, 1 – Körperschaftsteuerminderungspotenzial I) erklärte der Erste Senat des BVerfG § 36 Abs. 3 und 4 KStG in der Fassung des Steuersenkungsgesetzes für mit dem GG unvereinbar, soweit die Regelung durch die Umgliederung von EK 45 in EK 40 unter gleichzeitiger Verringerung des EK 02 zu einem Verlust von Körperschaftsteuerminderungspotenzial führte. Daraufhin änderte der Gesetzgeber mit dem Jahressteuergesetz 2010 die Übergangsvorschriften der §§ 36 und 37 KStG durch Einfügung von § 34 Abs. 13f, 13g KStG. Nach der Neuregelung wurde die vorrangige Umgliederung von EK 45 in EK 40 durch § 36 Abs. 3 KStG gestrichen. Gem. § 36 Abs. 4 KStG findet nunmehr in einem ersten Schritt eine Verrechnung der unbelasteten Eigenkapitalteile EK 01, EK 02 und EK 03 statt. Ist die Summe dieser Teilbeträge negativ, so sind sie zunächst untereinander und sodann mit den mit Körperschaftsteuer belasteten Teilbeträgen in der Reihenfolge zu verrechnen, in der ihre Belastung zunimmt, also EK 30 vor EK 40 vor EK 45. Der Teilbetrag i.S.v. § 30 Abs. 2 Nr. 4 KStG 1999 (EK 04) bleibt dabei unberücksichtigt.

Im Fall der Beschwerdeführerin, einer Bank in der Rechtsform einer eingetragenen Genossenschaft, führte die Nichtberücksichtigung von EK 04 bei der Umgliederung des vEK zu einer Verringerung des im Zeitpunkt des Systemwechsels realisierbaren Körperschaftsteuerminderungspotenzials. Der deshalb eingelegte Einspruch und die anschließende Klage vor den FG blieben erfolglos. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügte die Beschwerdeführerin eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG). Neben den zugrundeliegenden Verwaltungs- und Fachgerichtsentscheidungen griff sie mittelbar § 36 Abs. 4 KStG an.

Die Verfassungsbeschwerde war erfolgreich.

Die Gründe:
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.

Das unter dem körperschaftsteuerrechtlichen Anrechnungsverfahren angesammelte Körperschaftsteuerminderungspotenzial unterfällt in dem Umfang, in dem es im Zeitpunkt des Systemwechsels vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren realisierbar war, dem Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Im Rahmen von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ist der Gesetzgeber bei der Neuordnung eines Rechtsgebiets zur Umgestaltung der nach früherem Recht entstandenen Rechte befugt, soweit dies durch Gründe des öffentlichen Interesses unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt und der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gewahrt ist.

Die Übergangsregelung des § 36 Abs. 4 KStG (i.d.F. von § 34 Abs. 13f KStG i.d.F. des JStG 2010) ist allerdings mit Art. 14 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, soweit die Vorschrift zu einem Verlust von Körperschaftsteuerminderungspotenzial führt, weil sie den in § 30 Abs. 2 Nr. 4 KStG 1999 bezeichneten Teilbetrag des verwendbaren Eigenkapitals nicht in die Verrechnung der unbelasteten Teilbeträge einbezieht. Dies ist zur Erreichung der gesetzgeberischen Ziele nicht erforderlich und mit den Anforderungen des Gleichheitssatzes nicht vereinbar.

Bei dem Wechsel vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren verfolgte der Gesetzgeber die legitimen Ziele, eine wettbewerbsfähige, europataugliche und leistungsgerechte Unternehmensbesteuerung zu schaffen. Zum Abbau der Eigenkapitalgliederung und zur Vereinfachung war die Regelung von § 36 KStG einschließlich des hier streitgegenständlichen Abs. 4 grundsätzlich geeignet. Nicht geeignet war sie allerdings wegen der Außerachtlassung von EK 04 zum vollständigen Erhalt des bei einer Vollausschüttung im Zeitpunkt des Systemwechsels realisierbaren Körperschaftsteuerminderungspotenzials. Insgesamt war die Regelung und der damit bei einer bestimmten Eigenkapitalstruktur einhergehende Verlust von Körperschaftsteuerminderungspotenzial zur Erreichung der gesetzgeberischen Ziele jedenfalls nicht erforderlich.

Mit der Einbeziehung des EK 04 könnten sämtliche vom Gesetzgeber verfolgten Ziele ohne Einschränkung erreicht werden. Die Erforderlichkeit der Außerachtlassung von EK 04 ergab sich weder daraus, dass EK 04 als steuerliches Einlagekonto auch im System des Halb- bzw. Teileinkünfteverfahrens benötigt wird, noch daraus, dass die im EK 04 repräsentierten Einlagen und der Buchwert der Beteiligung nicht auseinanderfallen sollen. Durch die Einbeziehung des EK 04 in die Verrechnung gem. § 36 Abs. 4 KStG findet weder eine Minderung der Einlagen noch eine Verringerung des Buchwerts der Beteiligung statt. Es handelt sich um einen bloßen Rechenschritt zum Zwecke der Berücksichtigung negativer vEK-Bestandteile bei der Ermittlung des realisierbaren Körperschaftsteuerminderungspotenzials, welche von der sich anschließenden Feststellung und Realisation des sich daraus ergebenden Körperschaftsteuerguthabens (vgl. § 37 KStG) zu trennen ist.

Für diese Ungleichbehandlung fehlt ein einleuchtender Grund. Die unterschiedliche Struktur der Kapitalausstattung genügt dafür nicht.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 26.01.2023 16:18
Quelle: BVerfG PM Nr. 11 vom 26.1.2023

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