15 / 2016

Dr. Stephan Ulrich, Rechtsanwalt, Düsseldorf

BREXIT – „We really didn’t see that coming, ...“

...so begann eine Email, die ich von einem großen britischen Unternehmen 72 Stunden nach der Auszählung des Referendums erhielt. Jetzt ist es tatsächlich so gekommen. Das Vereinigte Königreich hat sich gegen den Verbleib in der EU ausgesprochen. Wie es jetzt weitergeht und wer mit welchen Konsequenzen rechnen muss, zeigt dieser Beitrag im Überblick auf.

I. Das Vereinigte Königreich ist noch nicht ’raus aus der EU

Mit dem Ausgang der Abstimmung ist der BREXIT noch nicht vollzogen. Rechtlich besteht kein Unterschied zwischen dem Zeitraum vor der Stimmabgabe und heute. Sämtliche europarechtlichen Vorschriften sind auch weiterhin anwendbar. Die Volksabstimmung markiert lediglich den Anfang vom Ende eines langwierigen rechtlichen, politischen aber auch historisch bisher beispiellosen Prozesses.

Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU erfolgte im Rahmen und unter den Bedingungen des Art. 50 des Vertrags über die Europäische Union (EUV). Die britische Regierung hat nun gemäß Art. 50 Abs. 2 EUV dem Europäischen Rat die Absicht mitzuteilen, aus der EU auszutreten. Ein Zeitrahmen für die Erklärung ist nicht vorgesehen. Ob nach dem Rücktritt von Premierminister David Cameron ein solcher Austrittsantrag von der Folgeregierung alsbald erwartet werden kann oder ob man versuchen wird, hieraus eine Verhandlungsposition zu entwickeln, bleibt abzuwarten.

Es wurde bereits allerorten berichtet, dass ab der Erklärung der Austrittsabsicht zwei Jahre Zeit für Verhandlungen sind. Sicher ist vor allem, sollte nach zwei Jahren der Verhandlung keine Einigung erzielt werden, wohl mit einem rechtlich und politisch abrupten Ende der Mitgliedschaft zu rechnen ist. Natürlich gibt es die Möglichkeit der Verlängerung der Verhandlungsphase. Diese bedarf aber der Einstimmigkeit, so dass es unwahrscheinlich erscheint, dass über den Zwei-Jahres-Zeitraum hinaus verhandelt wird. Wie das Ergebnis dieser Verhandlungen aussehen wird, ist Spekulation. Allerdings kann man sich an einer Reihe von bereits bestehenden Modellen orientieren.

II. So könnten die wirtschaftlichen Beziehungen in Zukunft aussehen

Für den Fall, dass es zu keiner Einigung kommt, könnten die zukünftigen Handelsbeziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) ablaufen. Zwar wurden Zolltarife über die WTO in den vergangenen Jahren stark abgebaut, im Vergleich zum Status Quo würde sich Großbritannien aber dennoch weit größeren Handelshemmnissen gegenübersehen.

Nach dem sog. „Norwegischen Modell” könnte das Vereinigte Königreich als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) versuchen, in den Bereich einer Freihandelszone zu kommen. Im EWR werden Rechte und Pflichten des EU-Binnenmarkts auf die EFTA-Mitglieder ausgedehnt. Wenn sich das Vereinigte Königreich diesem Abkommen vertraglich anschließen würde, hätte das Vereinigte Königreich als Nicht-Mitglied der EU kein nennenswertes Mitspracherecht mehr bei der Festlegung handelsrechtlicher Regelungen der Union, die im EWR anwendbar sind. Dies liefe auf Pflichten ohne Mitspracherecht hinaus, was im Anbetracht der Hintergründe für das Austrittsbegehren unwahrscheinlich ist. Das schlichte Zurückfallen auf einen EWR-/EFTA-Status, das auf den ersten Blick so einfach aussieht, dürfte damit unpopulär sein.

Denkbar wäre das sog. „Kanadische Modell”. Der noch nicht ratifizierte CETA-Vertrag gilt als das umfassendste Freihandelsabkommen mit einem Drittstaat. Allerdings haben die Verhandlungen rund sieben Jahre gedauert. Darüber hinaus sind Finanzdienstleistungen nicht eingeschlossen und auch nicht-tarifäre Handelshemmnisse bleiben in dem Vertrag, der ansonsten Zölle für Industrieprodukte und die meisten Agrargüter abbaut, bestehen.

Entscheidend für die weiteren Beziehungen stellt sich die Frage, wie unbeschränkt der künftige Zugang des Vereinigten Königreichs zum EU-Binnenmarkt sein soll und inwieweit die beiden Parteien bereit sind, die vier Grundprinzipien des freien Personen-, Dienstleistungs-, Kapital- und Warenverkehrs zu akzeptieren.

III. Zugang zum EU-Finanzmarkt

Zwar wird die Antwort auf diese Kernfrage von einer Vielzahl wirtschaftlicher und juristischer Konsequenzen abhängen, die Relevanz Londons als eines der größten Finanzplätze der Welt dürfte aber zu der Frage des Marktzugangs für Finanzdienstleistungen innerhalb der EU ein erhebliches Gewicht haben. Der Finanzmarkt basiert mittlerweile faktisch auf dem „Europäischen Pass”, einem System zum erleichterten Zugang von Banken, Finanzdienstleistern, Versicherungsgesellschaften und Investmentfondsmanagern zu anderen EU-Märkten. Das Risiko besteht, dass das zurzeit vor allem aus London betriebene Europageschäft vieler internationaler Wertpapier- und Finanzdienstleister z.B. vollständig umstrukturiert werden müsste.

IV. Erheblicher Rückschritt bei zahlreichen EU-Errungenschaften

Was passiert mit dem UPC? Neben den indirekten Folgen, die nahezu alle international tätigen Industrie- und Wirtschaftszweige erfasst, gibt es aber z.B. im Patentbereich direkte Auswirkungen. Das Europäische Patentgericht (UPC) und das zeitgleich in Kraft tretende EU-Patent sollen die nationalen Regelungen vereinheitlichen und einmalig anzumeldenden EU-weiten Patentschutz garantieren. Das Inkrafttreten erfordert indes, dass mindestens 13 der 25 teilnehmenden Länder dem Projekt zustimmen. Zudem müssen die drei Länder mit den höchsten Patent-Anmeldezahlen – Deutschland, Frankreich und Großbritannien – zwingend zustimmen. Darüber hinaus dürfen nur Unionsmitglieder am UPC teilnehmen. Die Ratifikation des Abkommens durch das Vereinigte Königreich und die Konsequenzen für den UPC insgesamt sind mehr als offen.

Auch der Gesellschaftsrechtler wird auf eine ganze Reihe von Instrumenten, die sich in den letzten Jahren etabliert haben, verzichten müssen. So hatten schon Bode/Bron, GmbHR 2016, R 129 auf die existentiellen Konsequenzen für die in der EU existierende Ltds oder LLPs hingewiesen. Auch SEs, die ihren Sitz in Großbritannien haben, sollten über ihre Sitzverlegung auf den Kontinent oder eine Umwandlung in eine nationale britische Rechtsform nachdenken.

Mit dem Wegfall der europäischen Insolvenzrechtsverordnung werden Unternehmen und Privatpersonen zukünftig auch nicht mehr von dem im Rechtsformvergleich günstigeren und schnelleren Möglichkeiten des britischen Insolvenzrechts profitieren können – die Verlagerung des COMI nach UK wird nicht mehr funktionieren. Den Rechtspraktiker wird auch ärgern, dass die Verschmelzungsrichtlinie, wenn der BREXIT rechtliche Realität wird, nicht mehr als Instrument zur Verfügung steht.

V. Better Save Than Sorry

Ist dies alles noch Theorie? Nein – die ersten Reaktionen und Beratungsansätze zeigen, dass zwar Politiker sagen mögen, sie hätten zwei Jahre Zeit. Aus Unternehmenssicht ist dies anders – Unsicherheit ist immer schlecht für das Geschäft: Unterstützt von ihren Beratern werden Unternehmen jetzt schnell Entscheidungen treffen und versuchen, sich strukturell und mit ihrem Geschäftsmodell so aufzustellen, dass der Vollzug eines BREXITS sie nicht mehr trifft.

Unternehmen, die europaweit und in Großbritannien agieren, bemühen sich bereits jetzt. Hier wird gehandelt. Keiner weiß genau, wie das Verhandlungsergebnis aussehen mag. Jedenfalls wollen sich die Unternehmen hiervon nicht kalt erwischen lassen.

Verlag Dr. Otto-Schmidt vom 21.09.2016 09:11