14 / 2019

Prof. Dr. Volker Römermann, CSP

Vom Insolvenz- zum Restrukturierungsverfahren: Die Restrukturierungsrichtlinie ist da!

Seit dem 26.6.2019 ist es amtlich: An diesem Tage wurde die Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) im Amtsblatt der Europäischen Union (Nr. L 172, S. 18) verkündet. Damit wird eine neue Ära eingeläutet, die zu grundlegenden Änderungen des deutschen Insolvenzrechts führen wird. Die bislang scharfe Klippe zwischen dem Stadium vor und dem Stadium nach Einleitung eines Insolvenzverfahrens wird abgeschliffen werden. Das hat auch Auswirkungen auf die laufende GmbH-Beratung, und zwar schon heute.


Divergente Verfahrensziele

„Ziel dieser Richtlinie ist es“, so heißt es zu Beginn der Erwägungsgründe, „zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts beizutragen“. Probleme bereiteten die Unterschiede zwischen den jeweiligen nationalen Insolvenznormen, da – so könnte man es auf eine Formel bringen – nur derjenige bereit ist, in einem anderen Land zu investieren, der weiß, welche Risiken ihn dort erwarten. Auch die „Grundrechte der Arbeitnehmer“ werden schon in diesem ersten Erwägungsgrund erwähnt und die Möglichkeit der Entschuldung von Unternehmern. Damit zielt die Richtlinie darauf ab, alle möglichen Verfahrensziele in sich aufzunehmen: Den traditionell deutschen Ansatz der Gläubigerbefriedigung, das französische Anliegen des Arbeitnehmerschutzes und Arbeitsplatzerhalts, aber auch den anglo-amerikanisch geprägten „fresh start“, wo es darum geht, Unternehmer zu ermuntern, auch Wagnisse einzugehen, das Scheitern in Kauf zu nehmen, dann aufzustehen und weiter den Erfolg zu suchen. Wird es dem deutschen Gesetzgeber gelingen, in der Umsetzung derart divergierende, heterogene, zuweilen kontradiktorische Ziele in praktische Konkordanz zu bringen?

„Im Insolvenzrecht wird immer häufiger nach präventiven Lösungen gesucht“, konstatiert Erwägungsgrund (EG) 4. Damit ist die Richtung vorgegeben: Die bisherige Zäsur im Leben eines Unternehmens durch die oft gefürchtete Stellung eines Insolvenzantrages soll einer Betrachtung weichen, die doch der Realität eher gerecht wird. Ein Unternehmen wird schließlich nicht „über Nacht“ insolvent und wäre vorher wirtschaftlich gesund. In aller Regel gehen der Insolvenz Krisenzeiten voraus, die von operativ-technischen Problemen (etwa: Lieferengpässe nach Fukushima) bis hin zu strategischen Fehlentscheidungen (etwa: falsche Diversifizierung des Portfolios, Fusion, Beteiligung an ausländischen Großunternehmen) reichen können. Wird die Krise frühzeitig erkannt, ist das Management bereit und in der Lage, auch unangenehme Entscheidungen entschlossen zu fällen, und – nicht zuletzt – stellt der Gesetzgeber ein geeignetes Instrumentarium zur Verfügung, dann mag in vielen Konstellationen das „förmliche“ Insolvenzverfahren unter Leitung eines Gerichts entbehrlich werden. Der Zugang zu einem solchen präventiven Restrukturierungsrahmen soll zukünftig „bei einer wahrscheinlichen Insolvenz“ offenstehen (Art. 4 RiLi).


Frühwarnsysteme

Wann diese Zutrittsschwelle (im Englischen: „likelihood of insolvency“) konkret erreicht wird, bedarf noch der näheren Eingrenzung. Schon jetzt wird aber die Erkennbarkeit einer Krise durch die Richtlinie unterstützt. Schuldner bekommen nach Art. 3 Abs. 1 RiLi „Zugang zu einem oder mehreren klaren und transparenten Frühwarnsystemen ..., die Umstände erkennen können, die zu einer wahrscheinlichen Insolvenz führen können, und ihnen signalisieren können, dass unverzüglich gehandelt werden muss.“ Die Frühwarnsysteme können sogar Anreize für Dritte umfassen, zum Beispiel Wirtschaftsprüfer, Steuerbehörden oder Sozialversicherungsträger, den Schuldner auf negative Entwicklungen aufmerksam zu machen (Art. 3 Abs. 2 RiLi). Das Finanzamt als Sanierungsberater – ein gewöhnungsbedürftiger, wahrscheinlich eher realitätsferner Gedanke. Das Überwachungssystem nach § 91 Abs. 2 AktG („damit den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen früh erkannt werden“), § 289 Abs. 1 Satz 4 und § 317 Abs. 4 HGB wird jedenfalls für diesen spezifischen Bereich ergänzt. Daraus ergibt sich für GmbH-Berater schon jetzt ein erweitertes Betätigungsfeld.

„Die übermäßig lange Dauer von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren in verschiedenen Mitgliedstaaten ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass niedrige Befriedigungsquoten erzielt und Anleger ... abgeschreckt werden“, heißt es in EG 6. Dem will die Richtlinie entgegenwirken, indem „die nationalen präventiven Restrukturierungsrahmen flexible Verfahren umfassen ..., in denen ... die Beteiligung solcher Behörden auf die Fälle“ beschränkt werden könne, „in denen dies erforderlich und angemessen ist“ (EG 29). Art. 5 RiLi ordnet dazu an: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Schuldner, die präventive Restrukturierungsverfahren in Anspruch nehmen, ganz oder zumindest teilweise die Kontrolle über ihre Vermögenswerte und den täglichen Betrieb ihres Unternehmens behalten.“ Auch „die Bestellung eines Restrukturierungsbeauftragten zur Überwachung der Tätigkeit eines Schuldners ... sollte nicht in jedem Fall zwingend sein“ (EG 30).


Wo sind die Kontrolleure?

Sollen die Pleitiers demnach einfach weiter wirtschaften dürfen, bis auch das letzte Asset verschwunden ist? Die Richtlinie hat diese Fragestellung im Blick. Sie spricht von einem „fairen Ausgleich zwischen den Rechten des Schuldners und denen der Gläubiger“ (EG 35). Deswegen sollten Einzelzwangsvollstreckungsmaßnahmen zwar auch ohne Überwachung durch einen Insolvenzverwalter ausgesetzt werden können, aber das nur zeitlich begrenzt: Von „höchstens bis zu vier Monaten“ spricht die Richtlinie, für „komplexe Restrukturierungen“ sollen aber auch zwölf Monate möglich sein (Art. 6 Abs. 8 RiLi; EG 35). Zwölf Monate lang der potenziellen Pulverisierung eigener Sicherheiten zusehen zu müssen, das werden Gläubiger als schmerzhafte Tortur empfinden.

Nicht nur an dieser Stelle wartet das künftige Recht mit für Gläubiger schwer verdaulichen Nachrichten auf. Geber von neuen Finanzierungen oder Zwischenfinanzierungen können nach Art. 17 Abs. 4 RiLi Anspruch darauf haben, in späteren Insolvenzverfahren Zahlungen vorrangig gegenüber Alt-Gläubigern zu erhalten. Außerdem soll die Frist, nach deren Ablauf insolvente Unternehmer in vollem Umfang entschuldet werden können, nach Art. 21 Abs. 1 RiLi zukünftig höchstens drei Jahre betragen. Da es politisch kaum durchsetzbar wäre, Verbraucher schlechter zu behandeln als Unternehmer, reduziert sich damit die Entschuldungsperiode in Deutschland von ursprünglich sieben, heute sechs Jahren auf nur noch drei Jahre. Je leichter sich Schuldner ihrer Verbindlichkeiten zu entledigen vermögen, desto schwieriger wird es auf der anderen Seite werden, überhaupt eine Finanzierung über Darlehen zu erhalten.


Schutz der Berater vor Anfechtung

Diese Richtlinie begnügt sich auch im Übrigen nicht mit dem regulatorischen Klein-Klein punktueller insolvenzrechtlicher Neuerungen. „Zur Förderung einer Kultur, in der die präventive Restrukturierung frühzeitig in Anspruch genommen wird, ist es wünschenswert, dass auch Transaktionen, die für die Verhandlung oder Umsetzung eines Restrukturierungsplans angemessen und unverzüglich notwendig sind, ... Schutz vor Insolvenzanfechtungsklagen erhalten“ (EG 69). Dazu gehören „vertretbare Geschäftsentscheidungen ... oder vertretbare wirtschaftliche Risiken“ (EG 70). Auch „die Zahlung von Gebühren und Kosten für die Aushandlung, Annahme oder Bestätigung eines Restrukturierungsplans“ sowie „die Zahlung von Gebühren und Kosten für die Inanspruchnahme professioneller Beratung in engem Zusammenhang mit der Restrukturierung“ sollen von diesem Schutz umfasst sein (Art. 18 Abs. 4 RiLi). Das liest der Restrukturierungs-Berater gerne.

Die Richtlinie nimmt aber auch die übrigen beteiligten Berufsgruppen in den Fokus: Eine Qualitätssteigerung bei Gericht durch eine vertiefte Ausbildung und Sachkunde der Richter (EG 85), nicht zuletzt aber auch durch eine Bündelung der Verfahren bei wenigen Behörden und Gerichten (EG 86) – in Deutschland war das bekanntlich noch im Zuge des ESUG auf politischen Widerstand einiger Bundesländer gestoßen. Dann die Verwalter: „Die Mitgliedstaaten können die Erarbeitung und Einhaltung von Verhaltenskodizes durch Verwalter fördern“, heißt es in Art. 27 Abs. 3 RiLi. Die allgegenwärtige Diskussion über das Berufsrecht der Insolvenzverwalter gewinnt dadurch weiteren Auftrieb. Eine spezifische Aufsichtsbehörde, eine Kammer etwa, wird von der Richtlinie ausdrücklich nicht gefordert (EG 89).


Auswahl des Insolvenzverwalters unter Einfluss des Schuldners

Die „Zulassungsvoraussetzungen sowie das Verfahren für die Bestellung, die Abberufung und den Rücktritt von Verwaltern [sollen] klar, transparent und fair“ sein (Art. 26 Abs. 1 lit. b RiLi). Die Richtlinie bietet damit erneut einen Anlass, das Verfahren der Verwalterbestellung (endlich) einer näheren Regelung zuzuführen. Verwalter könnten „von einem Schuldner, von Gläubigern oder von einem Gläubigerausschuss aus einer Liste oder aus einem Pool, die beziehungsweise der von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde zuvor gebilligt wurde, ausgewählt werden“ (EG 88). Dabei könne den Beteiligten – einschließlich des Schuldners selbst! – „ein Ermessensspielraum hinsichtlich der Sachkunde und der allgemeinen Erfahrung“ des Verwalters gewährt werden (EG 88). Die im ESUG noch zögerliche Tendenz, Schuldnern zusätzlichen Einfluss auf die Auswahl des Verwalters zu gewähren, wird durch diese Richtungsweisung schon heute spürbar verstärkt. Der deutsche Gesetzgeber hatte sich im Jahre 2012 noch darauf beschränkt, die Banalität in Worte zu gießen, dass ein Vorschlag den Verwalter-Kandidaten nicht inhabil mache (§ 56 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 InsO). Der europäische Normgeber lässt nun erkennen, dass derartige Vorschläge nicht nur unbedenklich sind, sondern dass dem Schuldner sogar ein prominentes Mitspracherecht zukommen darf. Das schließt eine richterliche Missbrauchskontrolle keineswegs aus, sondern verhindert lediglich überkommene, aber unbegründete Pauschalablehnungen. Auch hier gibt es also Argumente, die findige Berater schon jetzt beflügeln werden, wenn sie ihren Wunsch-Verwalter bei dem zuständigen Gericht durchsetzen wollen.

Die Richtlinie tritt am 16.7.2019 in Kraft (Art. 35 RiLi). Nach Art. 34 Abs. 1 RiLi hat die Umsetzung in das jeweilige nationale Recht bis zum 17.7.2021 oder, wenn Mitgliedstaaten „bei der Umsetzung dieser Richtlinie auf besondere Schwierigkeiten stoßen“, bis spätestens 17.7.2022 zu erfolgen. Für solche „besonderen Schwierigkeiten“ sind in Deutschland (zumindest objektiv) keine Anhaltspunkte ersichtlich. Sollte es (wieder einmal) später werden, ist an eine richtlinienkonforme Auslegung des geltenden Rechts zu denken.


Fazit

Das bislang künstlich-binäre Modell „außerhalb/innerhalb von Insolvenzverfahren“ wird abgelöst durch ein differenzierteres System mit mehr Varianten schon im frühen Stadium, mit einer Stärkung des sanierungsrechtlichen Instrumentariums und mit einem erleichterten Einstieg in die Restrukturierung. Berater gewinnen Handlungsoptionen, haben mehr Argumente bei Gericht, sichern leichter ihr Honorar. Auf der anderen Seite sind Einschnitte bei den Rechten der Gläubiger und ein Rückgang des gerichtlichen Einflusses auf das Verfahren möglich. Der deutsche Gesetzgeber ist in der Vergangenheit nicht allzu häufig als Impulsgeber für juristische Weltrevolutionen hervorgetreten. In der letztlich verabschiedeten Fassung lässt die Richtlinie den Mitgliedstaaten an vielen Stellen Freiheiten in der konkreten Umsetzung. Man darf daher gespannt sein auf die realen Veränderungen, die ab 2021 in das deutsche Gesetz einfließen. Wachsame Berater, welche die Richtlinie mit offenen Augen studieren, werden nicht bis dahin warten, sondern schon jetzt Ansätze für ihre Praxis ableiten.

Verlag Dr. Otto-Schmidt vom 09.07.2019 11:55